Chirurgie


Präparierbesteck (2)

 

 

Für den Studienanfänger stellen die beissenden Formol-Gerüche im Praepariersaal eine erste Hürde dar - da tränen die Augen und revoltiert der Magen. Doch gehören konkrete anatomische Erfahrungen zum Grundwissen der Chirurgie, und, wie sagte schon der grosse Anatom Friedrich TIEDEMANN (1781-1861):
"Ärzte ohne Anatomie gleichen den Maulwürfen. Sie arbeiten im Dunkeln und ihrer Hände Tagewerk sind Erdhügel".

 

Exponat

Der hier vorgestellte Kasten stammt aus meiner Freiburger Studentenzeit - eine Erinnerung an die Anatomie-Kurse unter Prof. Eugen FISCHER (1874-1967) und Prof. Ludwig KELLER (1910-1977). Beide untersagten den Gebrauch von Kettenhaken, mit denen an vielen Universitäten die Gewebe an der Leiche auseinander gehalten werden. Sie erachteten die Verletzungsgefahr zu Recht als zu gross und wollten die Kettenhaken nicht in ihrem Saal sehen: die Angst vor dem "Leichengift" ging um. In der Tat hat sich so mancher Student eine gefährliche Finger/Hand- verletzung, schlimmstenfalls eine tödlich endende Verletzung beim Präparieren von Leichen zugezogen.


Die Leichenteile getöteter oder verstorbener Tiere können Leichengift enthalten, Eiweißzerfalls- produkte wie Cadaverin und Putrescin. Bei der Zersetzung von tierischem Eiweiß ist meist auch das Bakterium Clostridium botulinum beteiligt. Diese Bakterien vermehren sich besonders gut auf Fleisch und Fisch und produzieren das Gift "Botulinum Toxin", welches oral zugeführt (also beim Essen) in winzigsten Mengen tödlich wirkt - nämlich bei 0,001 mg. Botulinum Toxin ist ein Synapsengift, welches die Ausschüttung von Botenstoffen (Azetylcholin) an der Muskulatur verhindert. Der Tod tritt durch eine Atemlähmung ein, d.h. das Zwerchfell ist nicht mehr steuerbar durch unser Gehirn. Das Leichengift gilt übrigens bei der Herstellung von biologischen Waffen als Möglichkeit z.B. Trinkwasser zu vergiften.


Leichengift (auch Ptomain, Leichenbase oder Leichenalkaloid genannt) ist eine (meist irreführende) Bezeichnung für die bei der Eiweißfäulnis durch bakterielle Zersetzung von Lysin und Ornithin entstehenden biogenen Amine Cadaverin und Putrescin, die ein Grund für den Verwesungsgeruch von Leichen sind. Daneben spielen auch Schwefelverbindungen wie Schwefelwasserstoff eine Rolle, die zwar an sich giftig sind, aber nicht in hoher Konzentration vorliegen. Obwohl in kriegerischen Auseinandersetzungen auch Leichen zum Vergiften von Brunnen und Gewässern verwendet wurden, gibt es die Substanz "Leichengift" nicht. Je nach Todesursache und Verwesungsgrad der Leiche ist ein bestimmter Krankheitserreger (beispielsweise Pestbazillen) oder ein Bakterientoxin für die krank machende Wirkung verantwortlich. Im Umgang mit Leichen z. B. in Bestattungsunternehmen gilt, dass eine schädliche Wirkung infolge Hautkontakt oder Einatmung von "Leichengift" ausgeschlossen ist. Bei oraler Aufnahme oder Übertragung durch Injektion oder Schnittverletzungen (Traumata) sind aber sehr wohl Erkrankungen möglich:

- durch Bakterientoxine (z. B. Botulinustoxin, Tetanustoxin),

- durch Spaltprodukte infolge Eiweißfäulnis.

Die Unfälle in Präpariersälen sind also nie auf Leichengift zurückzuführen. Allenfalls werden sie durch besonders virulente Bakterien hervorgerufen, die trotz Formoldurchtränkung der Leiche überlebten resp. die Leiche nach dem Tode der Person besiedelten ...

 

Nota: die Haken im Vordergrund des Bildes stammen aus dem Nachlass des ab 1945 in der Hauptstadt niedergelassenen Arztes Roger SEILER (1911-1975).