Chirurgie


Stelzbein (3)

Original Stelzfuss aus der Zeit kurz nach dem 1. Weltkrieg 

 

In der Antike haben Römer und Griechen Beinprothesen hergestellt. Im 5. Jh.v.Chr. beschrieb der griechische Dichter Aristophan in seinem Gedicht « Die Vögel » einen Invaliden mit einem Holzbein. Der Historiker Herodot erzählte im 4. Jh.v.Chr. in seinem Buch "Kalliope" (Buch IX, Kapitel 37) die Geschichte des Thereupon Hegesistratus von Elea, der sich 484 v.Chr. einen Fuss abhackte um den Spartanern zu entwischen – er lebte weiter mit einer Holzprothese. Plutarch wiederholt die Geschichte des Hegesistratus in seinen "Moralia 479 b". Einer der ältesten archäologischen Hinweise auf eine Beinprothese ist der 1858 ausgegrabene „Stelzfuß von Capua“, ein Gerät aus Bronze, das aus der Zeit um 300 v.Chr. stammte [es ging 1942 bei der Bombardierung Londons verloren].
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Oberschenkel- amputationen überlebten die Patienten in der Regel nicht. Bis zum 16. Jahrhundert halfen sich Unterschenkelamputierte mit einfachen Holzstelzen. Ambroise PARE (1509-1590) entwarf eine Reihe neuartiger Prothesen, mit metallener Rüstung, einem im Knie artikulierten Stelzbein und den „cuissard à pilon“ wie er noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts benutzt wurde. Die Prothesentechnik des Alltags war primitiv. Eine Ausnahme war das Bein des „Kleinen Lotharingers“ aus dem 16. Jahrhundert. Es war in Rohrskelett-Bauweise konstruiert, mit gefedertem Fuß und gesperrtem Kniegelenk, und wurde durch eine Art Ritterrüstung verkleidet. Es ist ein immer wieder aufgeführtes Beispiel für Handwerkskunst und „Hightech des Mittelalters“, vergleichbar mit der „Eisernen Hand des Götz von Berlichingen“. Für Wohlhabende gab es also im 16. Jahrhundert neben den Stelzen auch schon erste Prothesenkonstruktionen. Sie hatten einen gefederten Prothesenfuß und ein bewegliches Kniegelenk. Zum Sitzen wurde das Knie abgewinkelt, beim Gehen musste es arretiert werden. Solche Prothesen waren Einzelstücke für Wohlhabende, im Unterschied zum Stelzbein für die Armen.

Ideal war die Stelze für Unterschenkelamputierte. Das noch vorhandene Kniegelenk wurde gebeugt und der Rest des Unterschenkels hinter den Oberschenkel hochgeschlagen. Auf diese Art stand der Patient auf dem Knie - eine völlig schmerzlose Art des "Knieens", bei dem der Stumpf überhaupt nicht belastet war. Weit weniger angenehm war die Stelze für den Oberschenkelamputierten. Er "ging" sozusagen auf dem schmerzhaften Stumpf.

Berühmter Träger eines Stelzbeines war Peter Stuyvesant (1612-1672). 1644 hatte ihm [beim Angriff auf die von den Portugiesen besetzte Insel St. Martin] eine Kanonenkugel den rechten Unterschenkel weggerissen - er musste (unterhalb des Kniegelenkes) amputiert werden. In seiner Heimat Holland liess er sich ein hölzernes Bein fabrizieren und hiess fortan "Peg-leg-Pete". Mit dem neuen Bein ausgerüstet stach er erneut in See – nach dem heutigen New York, wo er 1647 Gouverneur wurde. Ein historisches Detail: in seiner Verwaltungszeit wurde in Neu-Amsterdam (der Südspitze von Manhatten, im heutigen New York) ein erstes Krankenhaus gebaut!

Unter den berühmten Holzbein-trägern sollte man den dominikanischen Freiheitskämpfer "Jambe de Bois" nicht vegessen, der 1653 den Merengue-Tanz "erfand", ein Tanz, bei dem nur ein einziges Bein bewegt wird, das zweite steif ist. Diese Anekdote nur, um Ihnen zu zeigen, dass man trotz Holzbein gar lustig sein kann!

1589 verfasste Georg Rollenhagen (1542–1609) seine Satyre „Der hinkende Bote“ - der Name stand später Pate für den Jahreskalender, der 1676 in Basel erschien, ab 1707 in einer französischen Ausgabe, 1851/52 in einer luxemburgischen Version "Der Luxemburger hinkende Bote", aus dem unsere Grosseltern Wettervorhersagen und andere Weisheiten bezogen.

1800 entwarf der Londoner Prothetiker James POTTS für Henry Paget Marquis of Anglesey ein hölzernes Bein, das "Anglesey leg", bei dem sich die Zehen über künstliche Sehnenstränge anhoben sobald das Knie gebogen wurde. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts aber blieb die einfache Holzstelze der übliche Beinersatz. Schreiner, Tischler und Dorfschmied teilten sich die Arbeit - jedes Exemplar war eine Einzelanfertigung.

Während des amerikanischen Sezessionskrieges (1861/65) wurden 30.000 Soldaten amputiert – eine ganze Industrie lebte nun davon, diese Menschen mit Prothesen zu versorgen.

Die Stelze war leicht und gestattete ein wendiges Gehen. Sich auf der Stelle umdrehen war damit ein Kinderspiel! Trotz Prothese aber konnten die Kriegsinvaliden nur ganz simple Berufe ausüben. Theodor Fontane (1819-1898) erzählte 1878 in seiner Erzählung "Vor dem Sturm" von "alten Mütterchen, primitiven Tabulettkrämern, endlich Stelzfüßen, die neben den beiden Berliner Zeitungen allerhand Flugblätter feilboten". Mancher "Stelzfuss" kam in seiner Armut auf die schiefe Bahn. So liess Arthur Conan Doyle (1859-1930) in seinem 1890 erschienenen Kriminalroman "Das Zeichen der Vier", den Schurken durch den holzbeinigen Small verkörpern...

Der 1. Weltkrieg hinterliess wiederum tausende von amputierten Veteranen, die auf Staatskosten mit Prothesen versorgt werden mussten, so viele Menschen konnte man nicht in die Arbeitslosigkeit entlassen. Allein in Deutschland brauchten über 44.500 Kriegsversehrte Bein- und Fußprothesen; Krankenversicherungen und der Verein für "Krüppelfürsorge" zahlten. Es galt, diese jungen Menschen soweit mit Prothesen auszustatten, dass sie einer geregelten Arbeit nachgehen konnten – „Arbeitsprothesen“ für die Arbeiter, „Sonntagsprothesen“ für die besseren Leute... Viele Kriegsversehrte erwarben nach dem Ersten Weltkrieg Konzessionen als Leierkastenmänner - was nicht immer gut ausging, wie der Roman "Die Rebellion" von Joseph Roth (1894-1939) von 1924 lehrt, in dem der Krüppel Andreas mit seiner Krücke einen Polizisten schlug und verhaftet wurde. Andere "Stelzfüsse" wurden Zeitungsverkäufer oder handelten mit Kurzwaren auf der Straße.

Dass der Teufel mitunter hinkend, mit einem Stelzfuss dargestellt wird, hängt mit seinem Sturz aus dem Himmel zusammen.

Der Stelzfuss war stets Sinnbild der endgültig verpatzen Lage. Da half kein Warten auf ein Wunder - ab ist ab. In diesem Sinne ist der Ausspruch des notorischen Atheisten Anatole France (1844-1924) zu verstehen, der sich über die Ex-Voto-Sammlung der Wunderstätte Lourdes moquierte: "Curieux! je ne vois pas une seule jambe de bois!" - komisch, kein einziges Holzbein.
Im gleichen Sinn ist das Sprichwort zu verstehen "un emplâtre sur une jambe de bois" - ein Verband über ein Holzbein, oder "un cautère sur une jambe de bois" - ein Medikament, das nichts ausrichten kann, ein sinnloses Unterfangen, ein Schlag ins Wasser.

Vorgestellt wird ein „Pilon des pauvres“ aus dem Pariser Vorort Levallois-Perret, ein Erinnerungsstück an den 1. Weltkrieg, ein Stelzbein für arme Leute, wie sie nach 1918 zu Tausenden hergestellt wurden. Dieser Typ der Beinprothese diente der Erstversorgung, und konnte angelegt werden, sobald die Amputationsnarbe einigermassen verheilt war. Der noch geschwollene und schmerzhafte Beinstumpf wurde bandagiert und in die Prothese (cône d'emboîtement) gesteckt. Nach Ablauf von 6 Monaten, wenn das Bein abgeschwollen war, konnte sich der Patient eine komplizierte, schwerere Prothese mit Kniegelenk herstellen lassen. Vielen Kriegsversehrten fehlte allerdings für eine derartige komplizierte Prothese schlicht und einfach ... das Kleingeld!
Das gute Stück [colonne de prothèse, bestehend aus dem "cône d'emboîtement" und dem eigentlichen Pflock, der "pièce terminale"] wurde aus Levallois-Perret, einem Vorort nordwestlich von Paris importiert.

Kuriosum: eine Zigarettenmarke trägt den Namen des tüchtigen Geschäftsmannes und Politikers Stuyvesant. Auf der ursprünglichen Packung wurde er mit seinem Holzbein dargestellt. Bei der Neulancierung der Marke wurde sein Bild durch den unproblematischeren roten Balken ersetzt - vielleicht wäre sonst der eine oder andere Raucher auf die Idee gekommen, Stuyvesant hätte ein Raucherbein gehabt...

Link zum "Deutschen orthopädischen Geschichts- und Forschungsmuseum" in Würzburg:
www.orthopaedie-museum.de/ueber_das_museum.html

Wer stilgerecht dinieren möchte, dem sei eine Reise nach Sachsen-Anhalt und ein Besuch im Restaurant "Zum Stelzfuß", Martiniplan 7, in D-38820 Halberstadt anempfohlen. 1576 erbaut mit einem Erkerturm, der auf einer Stelze steht, wurde das Haus am 8. April 1945 durch amerikanische Bomber in Schutt und Asche gelegt, nach der Wende stilvoll wiederaufgebaut. "Deutsche Küche" gefällig?

In Lüttich / Belgien, im Ortsteil Rocourt, erhebt sich ein Kriegerdenkmal für die Gefallenen der Revolution von 1830 - dies ausgerechnet am Ende einer Gasse, die "rue Jambe de Bois" heisst, [einer Abzweigung der "rue Sainte-Walburge" in der Ortseinfahrt von Rocourt]. In Heure-le-Romain / Provinz Lüttich gibt es ebenfalls eine Strasse "La Jambe de bois". Auch in Autun / Frankreich gibt es eine "rue de la Jambe de Bois": Beweise für die besondere Aufmerksamkeit unserer Vorfahren dem Holzbein gegenüber ...