Geburtshilfe


Storch als Kinderbringer

 

Kinder kamen aus dem Wasser, aus einer abgelegenen oder in einem Wald verborgenen Quelle, die man durchaus kannte, aus einem sehr tiefen Brunnen, der "mit dem Schoss der Erde" verbunden war. Im Norden und Osten Frankreichs und eigentlich in ganz West- und Mitteleuropa kannte man bis zur Jahrhundertwende solche Kinderquellen und Brunnen:

- der Kinderbrunnen im Strassburger Münster, der eine Verbindung zu einem grossen unteridischen See bildet, in dem Kinder "gemacht" wurden,

 

-   der Titisee bei Freiburg, von dem alle Kinder der Umgebung her kamen.

 

 

-   als "Kindlesbrunnen" galt auch der Schlossbrunnen auf Schloss Hellenstein in Heidesheim in der Schwäbischen Alb. Dort besorgte sich der Storch die kleinen Kinder: diese Vorstellungen führen (zit. de la Fontaine S.142) zurück auf den himmlischen Brunnen oder Garten der Mondgöttin, in deren freundlicher Gesellschaft die Seelen der noch nicht geborenen Kinder sich aufhalten. Von dort brachten der Storch, die Krähe oder der Schwan die Kinder und ließen sie durch den Kamin der Mutter ins Bett fallen.

 

 

 -  dass Hebammen kleine Kinder aus einem Brunnen fischten — oft bei sich daheim im Keller — kommt in alten Sagen vor. In Zirl bei Innsbruck warf eine Hebamme in einer solchen Erzählung die Kleinen dem Pfarrer zu, der sie auffing und in seinem Keller behielt, bis sie dort abgeholt wurden. Und in Rankweil kamen die jungen Paare und durften, wenn sie sich „in frommer Absicht dem Brunnen näherten“, daraus ein Kindlein empfangen.

   Lit.: https://www.sagen.at/texte/sagen/oesterreich/vorarlberg/bregenzerwald/klausenstein.htm

  

 

-   Am verbreitesten in Mitteleuropa dürfte der Glaube sein, dass der Storch die kleinen Kinder bringt. Warum gerade dieser stelzige Vogel? Vielerorts begrüsst man den Storch als Frühjahrsboten*; der erste Storch, den man im Frühjahr fliegend sah, bedeutete Glück. Möglicherweise machte der Volksglaube eine Assoziation zwischen dem Lebensbeginne in der Natur und dem Beginn eines neuen Menschenlebens und wählte darum gerade diesen Vogel als Symbol aus für die Geburt. *Ciconia alba, der Weisse Storch verbringt die Wintermonate in den warmen Zonen, in Griechenland, Arabien, im Sinaigebirge, in Ägypten, vor allem aber in Afrika, wo er bis zum Kap der Guten Hoffnung fliegt, in der Hoffnung, hier einen reichgedeckten Tisch zu finden. Den Winter aber verbringt der Vogel an den Ufern des Rheines. In Norddeutschland erscheint er etwa Mitte März und weilt hier etwa bis Mitte August.

 

 

-   Bei zahlreichen Völkern genossen Störche hohes Ansehen, weil sich diese Zugvögel besonders liebevoll um ihren Nachwuchs kümmern - eine der vielen Ursachen, warum man den Storch mit dem Kindersegen in Verbindung brachte. Auch die lebenslange Treue der Storchenpaare prädestinierte sie als Sinnbilder von familiärem Glück.

 

 

 -   Noch 1958 wurde folgende Version erzählt: "Man muss abends Zucker auf die Fensterbank streuen, denn wenn morgens der Klapperstorch seine Runde fliegt, sieht er genau, welche Familien sich ein Baby und ein Geschwisterlein wünschen. Ich bin nicht müde geworden, Wochen und Monate Zucker zu streuen und morgens zu sehen, dass der Zucker weg war. Wenn es mir denn mal wieder zu lange dauerte, sagten meine Eltern: ,,Im Moment hat der Klapperstorch viel zu tun, aber er vergisst uns bestimmt nicht".

 

 

-   Der Legende nach soll er die Kinder aus einem Brunnen holen und anschliessend die Mutter ins Bein beissen, damit sie ins Bett muss, in welches er dann das Kind legt. Im Lande Brandenburg beisst der Storch die Schwangere ins Bein und macht so aus dem tierischen Wesen, welches sie am Tragen ist, einen Menschen: eine elegante Art, den Übergang vom animalischen Stadium des Embryos zum Stadium des Homo sapiens zu beschreiben.

 

 

-   Dass Kinder aus einem "Kasärestack" geboren werden, ist auch heute noch vielfach der Fall: jeder Luxemburger kennt den etwas derben Vergleich "ën Oosch ëwéi ë Kasärestack", wenn von einem besonders dicken Hintern die Rede geht..... Ich frage mich, ob sich nicht auch hinter dem berühmten "Kaabeskapp" ganz simpel das Symbol eines Frauengesässes verbirgt. Glichen nicht die unzähligen Lagen von übereinander getragenen Röcken und Unterröcken unserer Urahninnen (Unterhosen kannte man nicht) den übereinandergeschichteten Blättern des Kohlkopfes?. Auch die elsässisch-lothringische Folklore kannte seit langem die Geschichte vom Klapperstorch, der die Kinder bringt. "La légende considère la cigogne comme un oiseau de bon augure. Dans un vieux recueil de contes de matrones intitulé "les Evangiles des Quenouilles", imprimé à Bruges en 1475, on lit: "Quand une cigogne fait son nyd dessus une cheminée, c'est signe que le seigneur de l'ostel sera riche et vivra longuement". Les antiques croyances admettent que la cigogne protège la maison contre la foudre. C'était une bête sainte et dans certaines villes d'Allemagne, l'arrivée des cigognes, messagères du printemps, était annoncée par une fanfare du gardien de la tour de l'église. La légende va plus loin encore. Elle considère les cigognes comme l'incarnation des âmes des trépassés. En cette qualité d'hommes métamorphosés en bêtes, elles auraient pour mission d'aller chercher au fond des puits l'âme destinée à l'enfant qui vient de naître. Dans toute l'Allemagne du Nord et du Centre, chaque ville avait son puits aux enfants. Strasbourg avait son Kindelsbrunnen. Cette naïve croyance trouve sa source dans la mythologie qui fait de la cigigne, conjointement avec le paon, l'oiseau favori de Junon, déesse des relevailles" (M. Engelhard, Souvenirs d'Alsacen Berger-Levrault, 1890, zit. in/ Chantclair, Revue Artistique et Littéraire N° 241 janvier 1928).

 

-   "Luxemburg, 3. März. Heute wurde im Commandantur Garten ein Storch gesehen, der hierorts ein seltener Vogel ist. Die Ankunft der Störche in unseren Gegenden ist eine sichere Ankündigung des Frühlings" (L.W. vom 5.3.1865).

  

 

-   "In der deutschen Mythologie repräsentiert der Storch die regnerische winterliche Jahreszeit. Aus der Wolke oder dem Winter kommt die junge Sonne, das Heldenkind, heraus; daher der deutsche Kinderglaube, dass die Störche die Kinder aus dem Wasser bringen" (Meyers Konversationslexikon 1909). Nach dem Völkermischen 1870/71 verbreitete sich die Figur des

   "Adebar du guter

   bring mir einen Bruder,

   Adebar du bester,

   bring mir eine Schwester"

-   in den Nachbarregionen; (im Niederdeutschen bezeichnet Adebar/Adebär den Storch, insbesondere den Kinderbringer). Nach dem 2. WK setzte sich diese Art des Kinderbringens bei uns allgemein durch: der Kohl gehörte nun nicht mehr in jeden Garten, viele Eltern und Stadtkinder hatten den Bezug zu Gartenpflanzen verloren, und vielen "bessere Leit" erschien die Geburt im Kabbeskopf als zu vulgär. Hinzu kam, dass der Kohl nun als eine typisch deutsche Küchenpflanze in Verruf geriet. Da kam der edle französische Storch gerade recht: naître à la française. Dabei sah die Wirklichkeit gerade umgekehrt aus: die Deutschen wurden seit jeher vom Storch gebracht, eine Geburt im Kohlkopf war ihnen völlig fremd und wurde als typisch französich empfunden. Im Lothringischen macht man im Übrigen den feinen Unterschied: die Jungen werden im Kohl geboren, die kleinen Mädchen hingegen am Rosenstrauch (ob die grossen Mädchen deshalb so oft Krallen haben?). Wie unpoetisch hört sich dagegen die moderne "Mär" an, die in stadtnahen Ortschaften kursiert, und derzufolge die kleinen Kinder wagenweise per Bahn, auf Bestellung der Hebamme, herbeikommen (Hess, Luxemburger Volkskunde 1929, S. 167).

  

 

-    Manchmal vertut sich der Storch bei seinem Landeanflug bzw. er erleidet eine Bruchlandung, manchmal wächst der Kohl am falschen Ort, so bei dieser Geburt am Wegrand zwischen Hollerich und Bonneweg:   "27.7.1765: Sibilla Hackenspill epternacensis ... affirmavit se praedictam matrem [Catharina Wagner ex beiren patria Trevirensis] circa medium tertia matutinae diei supradictae in via inter Hollerich et Bonamviam in partu reperisse" (AVL LU I 32/53 fol 86v).

  

 

Epilog

Der Storch ist Symbolfigur am Lebensanfang. Auch am Ende der irdischen Tage taucht sein Schatten auf: seit ewigen Zeiten gilt er als Sinnbild der elterlichen Aufopferung für den Nachwuchs - in der Tat ist die Ausdauer der Eltern am Nest bemerkenswert. Es ist nur recht und billig, wenn die Kinder, wenn sie eines Tages gross sind, ihre inzwischen kranken und lahmen Eltern ihrerseits füttern. Dieser Gedanke inspirierte den Gesetzgeber von Athen einst, als er die "lex pelargonia" verfasste (pelargos, der Storch), der die Kinder dazu verpflichtet, im Alter für die Eltern zu sorgen.

  

 

Lit.:

Ed. de la Fontaine, Luxemburger Sitten und Bräuche, Neue Ausgabe, edition Krippler-Muller 1983, S. 142.

Jos. Hess, Luxemburger Volkskunde, Verlag Paul Faber, Grevenmacher 1929.

Karl Mersch, Die Luxemburger Kinderreime, Verl. V. Bück Luxemburg, 1884.

Marcel Simon, Echternach, liebe alte Stadt, in: An der Ucht 1955, S. 153-154.


© 2008 Dr. André Kugener
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