Innere Medizin


Blutegeltherapie (1)

 

 

    Blutegel (wissenschaftlicher Name: Hirudo medicinalis) werden unter medizinischen Gesichtspunkten seit Jahrtausenden verwendet. Schon im 13. Jahrhundert vor Christus wurden Blutegel medizinisch angewandt, und bei den Griechen und Römern im 5. Jahrhundert vor Christus waren sie ein fester Bestandteil der Heilkunde. 100 v. Chr. wurde der Blutegel von dem griechischen Arzt Nikandros von Colophon lobend erwähnt. Die Egeltherapie setzte sich im Mittelalter und in der frühen Neuzeit fort. In Frankreich stieg die Blutegeleinfuhr zwischen 1827 und 1850 von 33,6 Millionen auf 100 Millionen Blutegel pro Jahr, Frankreich importierte noch Ende des 19. Jhr. etwa 16 Millionen Blutegel pro Jahr, ebenso viele England. In Deutschland betrug der Verbrauch Ende des 19. Jahrhunderts 25 Millionen Tiere pro Jahr.


In Luxemburg finden sich noch heute kleine Restbestände von Hirudo medicinalis im "Steckelter Mou'er" an der Landstrasse, die von Itzig nach dem Scheidhof führt (in einer kleinen Senke, die als Rest einer gallo-romanischen Mardelle gedeutet wird). Ob hier gezüchtet wurde bleibt zu beweisen.


Trotz industrieller Zuchtanlagen in Frankreich und Deutschland waren die Blutegel in den 30er Jahren des 19. Jhr. fast ausgerottet. Mitte des Jahrhunderts mußten daher Tiere aus Ägypten, Syrien, der Türkei, Rußland und Zentralasien importiert werden. Ende des 19. Jahrhunderts verschwanden die Egel aus dem medizinischen Repertoire. Da die Tiere weder zu sterilisieren noch keimfrei zu machen sind, wurden sie von den Medizinern und Hygienikern abgelehnt.


Lit.: Auguste Jourdier, L'Hirudiculture, in: La pisciculture et la production des sangsues, Hachette Paris 1856.

 

Ausleitende Wirkung
Die Blutegeltherapie ist ein ausleitendes Verfahren ebenso wie Aderlass, Baunscheidtieren und das Cantharidinpflaster. Je nach der zu behandelnden Krankheit werden an verschiedene Stellen der Haut Blutegel angesetzt. Vom Anfang des 19. Jahrhunderts an nahmen die Blutentziehungsmaßnahme, damit auch die Blutegelbehandlungen, drastisch zu, verloren sich jedoch leider um 1860 wieder, als die "wissenschaftliche" Medizin das "alte" Heilwissen ersetzte. Ein Tier nimmt je nach Grösse und Appetit 10 bis 20 ml Blut auf und braucht dafür eine viertel bis drei Stunden. Dann lässt es von seinem Wirt ab. Die BissStelle blutet dann noch etwa12 Stunden weiter. Der Saugakt kann jederzeit mittels Betupfen mit Essig, Salz oder Alkohol unterbrochen werden.

 

Gerinnungshemmende Wirkung
1922 berichtete der Arzt TERMIER über Erfolge bei der Behandlung von Thrombosen. 1935 berichtete der Frankfurter Arzt Heinz BOTTENBERG über sensationelle Erfolge. Seit 1975 erlebt diese Therapie einen ungeahnten Aufschwung. Der Blutegel wird eingesetzt bei besonderen Problemstellungen wie: Krampfadern, Besenreisern, Venenleiden, Arthrose, Tinnitus etc. Grundsätzlich können Blutegel bei allen Krankheiten, die mit Durchblutungsstörungen einhergehen, eingesetzt werden. Die gerinnungs-hemmenden Effekte der Egel von Transplantations-chirurgen neuentdeckt. 1975 drohte an der Uni Harvard das angenähte Ohr zu nekrotisieren. Nach Ansatz eines Egeln verbesserte sich die Durchblutung des Implantates, das Ohr heilte nun problemlos an. Bei der Replantation von Ohren, Fingern, Zehen oder Hautlappenverhindert der Ansatz von Egeln den venösen Stau im Operationsgebiet - die Egel werden immer häufiger eingesetzt. Guy FOUCHER, Chef de Clinique, der "Faculté de Médecine" von Strassburg berichtete 1981 über Erfolge in der Mikrochirurgie.

 

Psychotrope Wirkung
Frauen, die mit nackten Beinen ins Moor stiegen, um Egel zu fangen, wurden von einer eigenartigen Stimmung erfasst, die auch in der folgenden Beschreibung von Audrey anklingt: "Un danger guettait ces malheureuses pêcheuses: au bout de quelques instants, les morsures paraissaient s'adoucir, comme une caresse troublante, qui annihilait toute réaction, toute prudence. Les sangsues faisaient leurs oeuvres! Aussi fallait-il réagir vite si l'on voyait une de ces jeunes filles vaciller dans la vase, comme prise d'ivresse ou de vertige, l'esprit dans les nuages: l'urgence était alors de hisser la victime hors de l'étendue boueuse pour la libérer au plus vite de ses parasites visqueux. Une franche gorgée de vin achevait alors de la requinquer". Als das Gerücht umging, dass Egelbisse stimmungsaufhellend wirkten, liessen sich Schwermütige von bis zu 100 Egeln gleichzeitig anzapfen, eine Rosskur, deren Blutverlust mitunter tödlich endete" (zit. Sascha Zoske, in: Frankurter Allgemeine Zeiting 19.4.1999).

 

Schmerzstillende Wirkung
Durch den Blutverlust wird nur eine gewisse therapeutische Wirkung erzielt. Die Hauptwirkung wird durch das Sekret hervorgerufen, das der Blutegel während des Saugvorgangs in die Wunde abgibt. Dass der Egel ein Sekret in den Körper abgibt ist der entscheidende Unterschied zu den anderen blutentziehenden Maßnahmen (z. B. Aderlass, blutiges Schröpfen). Manche der im Sekret enthaltenen Substanzen sind bekannt (Calin, Eglin, Bdellin, Hementin, Hirudin), andere harren der wissenschaftlichen Erforschung. Im manchen Krankenhäusern werden Blutegel auch eingesetzt, um Patienten mit Knie-, Schulter- oder Hüftarthrose zu behandeln. Auch bei Gicht helfen die Egel. Die Tierchen geben durch ihren Speichel Wirkstoffe und Enzyme ab. Warum sie dabei die Arthrose-Schmerzen lindern, ist noch offen. Die Patienten haben dann mitunter mehrere Wochen weniger oder gar keine Schmerzen und Beschwerden.


Nota: im Gegensatz zum Heparin, gegen das ein Antidot im Handel ist, kann die Wirkung des Hirudins nicht aufgehoben werden.
Tatsache ist, dass der Bedarf an Egeln deutlich gestiegen ist - 400.000 Tiere jährlich, allein in Deutschland, wobei der Bedarf grösstenteils durch Importe aus der Türkei und aus Kroatien gedeckt wird.

 

Der Transport

Die Blutegel sind sensible Tierchen. Nervöse Egel beißen nicht! Sie vertragen keine aufgeregte Atmosphäre, sind wetter- und transportempfindlich und vertragen keinen Temperaturwechsel. Deshalb sollten sie dunkel und ruhig stehen. Daher eignen sich die alten Gefäße aus Zinn besser als durchsichtige Gläser. Bei der Versendung müssen die Blutegel gehörig feucht erhalten und täglich einmal auf eine halbe Stunde in fließendes Wasser gebracht werden. Das frische Wasser muß mit dem abzugießenden gleiche Temperatur haben und wird mittels eines Trichters, der bis auf den Boden des Gefäßes reicht, langsam eingegossen. In Frankreich wurde im 16. Jahrhundert ein ganz spezieller Topf entwickelt, der zweckentfremdeter Reiskocher, der sich quasi unverändert bis ins 19. Jahrhundert hielt: "La forme française est celle de la boule à riz d’étain : en effet, dans l’Art du potier d’étain publié en 1788, on trouve une gravure, reproduite par P.A. Salmon, montrant une boule à riz, objet domestique produit par les potiers d’étain. Il s’agit d’un objet ovoïde surmonté d’un couvercle vissé. Une série de trous percés au tiers supérieur de la sphère parcourt sa circonférence. Le couvercle, sur lequel est soudée une prise en anneau, est percé de trous disposés en cercle. Le texte de Salmon en précise l’usage : «boule à riz, propre à faire cuire dans le pot du riz ou des pois verts, ou même du vermicelle». Dans l’ouvrage de l’abbé Bidault, Etains médicaux et pharmaceutiques, édité en 1972) la boule à riz change de définition et devient boule à sangsue. L’auteur ne fournit aucune indication sur les sources ou arguments l’ayant conduit à redéfinir l’objet. La boule à riz avec sa fermeture hermétique évite la fuite des animaux et possède des orifices d’aération suffisants pour conserver en vie quelques vers. C’est un objet domestique courant, peu encombrant, facile à transporter, disponible chez les gardes-malades et bien adapté à cette nouvelle fonction. Cependant, cette boule à riz n’apparaît pas, à l’époque, dans les catalogues de fabricants de matériel médical" (Sylvain Malassis).

 

Die Luxemburger Verwaltungen kannten zwei Tarife.

1848 erhielten:

- Chirurgen 75 Centimes,
- Hebammen 50 Centimes.

1854 erhielten:

- Chirurgen und Doktoren der Chirurgie 1,50 Francs, eine bedeutende Aufstockung,
- Hebammen bekamen immer noch ihre 50 Centimes "Für Ansetzen von Blutigeln oder Schröpfköpfen" (Memorial n°24/1854).

 

Exponat

Vorgestellt wird ein 13 cm hohes, 7.3 cm dickes Egelgefäss aus Zinn. Eine Gravur in der Bodenplatte belehrt uns, daß es sich um Werbegeschenk handelt - "Laboratoire Oberlin Paris, Etain 98%, Vincent Garnier, N°342/1.000". "Vincent GARNIER est spécialisé dans la copie récente (années 1980) d'instruments et/ou pot de médecine et pharmacie".
Nota: das Laboratoire Oberlin hat seinen Sitz z.Zt. in F-47000 Agen / Lot et Garonne und produziert das Schmerzmittel "Aferadol" (Paracetamol), eine "pâte pectorale" und ein Vitamin-C-Präparat.

Herkunft: Antikladen in Saint-Chamond nordöstlich von Saint-Etienne (Massif Central), 2009.