Pharmazie


Englisch-Pflaster

um 1930 

Wir stellen ein Päckchen Klebtaft vor, der seinen Namen "Englischpflaster" möglicherweise von der Angelicapflanze (dtsch. Engelwurz) hat und mit den Engländern nichts zu tun hat. Im Kräuterbuch des Jacobus Theodorus Tabernaemontanus (1588, Ausgabe 1625) lesen wir:
"Von der Angelick oder Engelwurtz. Nimb der zamen Engelwurtzbletter zwo Handtvoll/ der Bletter der wilden Angelick/ Widerthonkraut/ Beyfuss/ Geyssfüssel/ oder Hinfuss/ die öbersten Gipffel von dem Sanct Johannskraut/ Teuffelsabbiss/ Jngrün/ jedes ein Handtvoll/ die Bletter von Birckenmispel/ auch eine Handtvoll/ Weinrauthen/ Güldenruth/ Hasenöhrlein/ Dostenkraut. Alle diese Kreuter müssen frisch unnd grün seyn/ die muss man hacken/ und darnach klein stossen/ im stossen soll man darmit vermischen frischen ungesaltzenen Buttern xvi.untz/ frisch unnd gut zeitig Baumölen xxiiii.untz/ unnd guten fürnen Wein ein Pfundt. Solches alles sol man in einen Steininen Hafen thun/ und ein Tag oder vierzehen in der Sonnen beytzen lassen/ darnach soll mans in ein Kessel oder Pfann thun unnd uber einem Kohlfewer sieden lassen/ biss sich der Wein unnd der Safft in den Kreutern gar verzehret/ und mit dem Buttern und Baumölen vereiniget hat/ alsdann soll man es durch ein Tuch seihen/ und dieweil diese ding noch warm seyndt/ hart mit einer Pressen ausspressen/ und darzu thun Silbergleth/ Goldtgleth zu einem subtilen Pulver gestossen unnd durch ein reynes Sieblein geschlagen. Diese Stück soll man miteinander auff einem linden Kolfewerlein sieden biss sie sich vereinbaren unnd die dicke eines weichen Pflasters bekommen/ als dann soll man damit vermische Gummi Opopanac drey loth/ Gummi Armoniac/ Gummi Serapin unnd Galbensafft/ jedes zwey loth in Essig zerlassen/ dann durchgesiegen unnd wider zu bequemer dick gesotten: Wann das wol vermischt ist/ so lasse es ferner sittiglich darinn zergehen/ geel Wachs rein geschaben/ Terpentin/ jedes zwölff loth/ Pinhartz und Therr oder weych Bech/ jedes vii.loth. Wann diese stück vergangen seyndt/ so thu ferner darzu iiii.loth gedistilliert Wechholterölen/ oder von den Beeren aussgetruckt/ wie man das Leinölen ausspresst: Darnach so strewe nachfolgende stück rein gepülvert dareyn/ als da seyndt Engelwurtz vier Loth/ schwartzen Agstein drey Loth/ geriebenen weissen Agstein zwey Loth/ Mastix/ weissen Weyrauch/ Aloepatick/ jedes anderhalb Loth/ gülden Widerthod/ rote unnd weisse geriebene Corallen/ jedes ein Loth. Diese Stück alle vermisch wol durcheinander/ böre es wol mit Johannesölen/ unnd mache Zapffen darauss. Dieses Pflaster dienet nicht allein zu den obgemelten Schäden/ sondern es heylet auch ein jeden Schuss unnd Stich/ und wirdt Emplastrum ex Angelica/ oder das Englisch Pflaster genannt".

Engelwurz (lat. Angelica archangelica) war spätestens seit dem 10. Jahrhundert in den skandinavischen Ländern als Heilmittel bekannt und gelangte mit den Wikingern in die Heilgärten der Benediktiner und Karthäuser in Mitteleuropa. Der Gehalt an Harz und Gerbstoffen liess die Pflanze schnell zu einem angesehenen Wundheilmittel avancieren, zumal es pilzabtötende und bakterizide Eigenschaften besitzt. Als es noch keine echten Antibiotika gab, schätzten die Menschen die bakterienabwehrende Eigenschaft des Engelwurzes und empfahlen Extrakte aus Wurzeln gegen Pest und andere Seuchen.

Heutzutage ist das Pflaster aus den Regalen der Apotheken und Drogerien verschwunden und kommt nur noch in alten Romanen vor. So in einem Brief "An Bettine" aus dem "Frühlingskranz" von Clemens Brentano (um 1805):
"Gespenster fühlen ein Behagen an solchem Tugendgekitzel, sie schmeicheln sich selbst, sie tragen sich auf Händen, sie haben einen faktizen Verkehr mit Gott, der aber nur Götzendienerei ist, sie belämmern alle Menschen mit ihren Anstalten der Menschenliebe; es fällt ihnen gar nicht ein, daß sie selber die bösen Schicksals-dämonen sind, deren Grausamkeit sie gerührt beweinen, und der sie steuern wollen mit einem Stück Englisch-Pflaster von dem sie mit der feinen englischen Schere der Mildtätigkeit Schnippelchen abschneiden, um damit den aufgesperrten Rachen der entsetzlichen Wunden zu verkleben, aus denen das warme Blut an die Erde quillt".

Auch in der wundersamen Geschichte des "Peter Schlemihl" von Adelbert von Chamisso (1813) kommt das Pflaster vor. Bei einer Gartengesellschaft des reichen Kaufmanns Herrn John, in der er von den anderen Anwesenden kaum beachtet wird, begegnet Schlemihl einem älteren, in grau gekleideten Mann, der auf Wunsch Englisch Pflaster, ein Fernrohr, einen türkischen Teppich, ein Lustzelt sowie drei gesattelte Reitpferde aus seiner Tasche zieht. Im 1. Kapitel lesen wir:
"Die schöne Fanny, wie es schien, die Herrin des Tages, wollte aus Eigensinn einen blühenden Zweig selbst brechen, sie verletzte sich an einem Dorn, und wie von den dunkeln Rosen, floß Purpur auf ihre zarte Hand. Dieses Ereignis brachte die ganze Gesellschaft in Bewegung. Es wurde Englisch Pflaster gesucht. Ein stiller, dünner, hagrer, länglichter, ältlicher Mann, der neben mitging, und den ich noch nicht bemerkt hatte, steckte sogleich die Hand in die knapp anliegende Schoßtasche seines altfränkischen, grautaffentnen Rockes, brachte eine kleine Brieftasche daraus hervor, öffnete sie, und reichte der Dame mit devoter Verbeugung das Verlangte".

Auch im Roman "Die Bergwerke zu Falun" von E.T.A. Hoffmann (1819) kommt das Pflaster vor:
" … und kritzelte nun mit verhältnismäßiger Schnelligkeit einen Brief fertig, faltete das Blatt zweimal und verklebte die noch offene Stelle mit Briefmarkenstreifen, von denen sie die gummireichsten immer mit dem Bemerken: »Is besser als Englischpflaster« aufzuheben pflegte".

Auch wenn man den Eindruck gewinnt, der Apotheker Pierre Bertogne (1898-1990) habe dieses romantische Pflaster mit einem Riesenerfolg in seiner Drogerie in der Grossgasse in Luxemburg verkauft, die Wirklichkeit sah etwas deftiger aus: wenn sich mein Vater beim Rasieren schnitt, klebte er Zigarettenpapier auf die Wunde. Beim aufmerksamen Beobachten meines Englischlehrers konnte ich an seinem Hals gelegentlich die gleichen Papierschnipsel entdecken – ohne zu wissen, was die mit "Englisch" zu tun hatten: nämlich gar nichts, vielmehr etwas mit "engel'isch" …