Pharmazie


Reiseapotheke (02)

um 1890 

Im 18. Jahrhundert gehörten häufige und ausgedehnte Ortswechsel zu den Gepflogenheiten adeliger Kreise. Um nicht auf den gewohnten Komfort verzichten zu müssen, führte man kostbares Reiseservice, Kosmetika oder Arzneimittel in edlen kastenartigen Behältnissen mit. Abhängig von der Zahl der Reisenden gab es kleine und große Reiseapotheken. Der Hofstaat führte auf seinen Reisen eine recht große Truhe als Reiseapotheke (frz. coffret de pharmacie) mit sich. Oft wurden die Medikamente seiner Durchlaucht in wertvollen Behältern aus Mahagoni aufbewahrt. Manche Apotheken enthielten sogar chirurgische Instrumente, Thermometer, Bestecke für den Aderlass, kleine Waagen, einen Mörser mit Stößel und unterschiedliche Messbecher.

Ähnlich opulent waren auch die Reiseapotheken von Landärzten ausgestattet, denen ausnahmsweise hie und da gestattet wurde, Medikamente an ihre Patienten abzugeben. In Luxemburg beantragte ein Arzt aus dem Ösling eine solche Dispens - diese wurde abgelehnt!

Was aber gehörte in eine gewöhnliche Taschenapotheke? Zur Zeit der Postkutsche gehörten Mittel gegen Ohnmacht, Durchfall sowie blutstillende Flüssigkeiten hinein. Außer dem obligatorischen Riechfläschchen ließ sich in einer Kutsche bequem ein größerer Kasten mitführen mit Wässerchen (etwa Salmiakgeist und Weinessig) und Pülverchen (wie Rhabarberwurzel und Salpeter) gegen Übelkeit, Verstopfung oder schwache Nerven und vieles andere mehr. Hier ein Sortiment aus dem Besitz des Hypochonders Mozart: "Aus zwanzig Briefen von Mozart und Aufzeichnungen seines pharmakotherapeutisch bewanderten Vaters Leopold sowie aus anderen Quellen geht hervor, dass Mozart schon von Kindheit an bei jeder nur denkbaren Gelegenheit aus der familieneigenen Haus- und Reiseapotheke im Laufe der Zeit mindestens 22 verschiedene Arzneien einzeln oder in Form von Mischpulvern (so genannte Markgrafen-, Schwarz-, Digestiv- oder Kardinalpulver) eingenommen hat und damit kurz vor seinem Tode noch „unaufhörlich medizinierte“. Von seinen Ärzten, die der I. Wiener Medizinischen Schule verpflichtet waren, wurden ihm neben einigen Drogen Salze von Quecksilber (Sublimat oder Kalomel), Antimon (Brechweinstein) oder Arsen (zum Beispiel in Fowlerscher Lösung ) verordnet" (Dtsch. Ärztebl. 2006; 103(4): A-172 / B-148 / C-147).
Der kleine Mann bestückte seine Reiseapotheke (frz. trousse à médicaments, trousse de pharmacie), dem dünneren Portemonnaie entsprechend, mit preiswerten Inhaltsstoffen: einem Mittel zur Blutstillung, Emsersalz gegen Entzündungen im Rachenbereich und Pulver gegen Bauchschmerzen und Verdauungsprobleme ...

Nicht nur mit der Zeit, auch mit dem Reiseziel änderte der Inhalt der mobilen Apotheken. Wer in die Tropen reiste nahm andere Mittel mit auf den Weg, ale einer, der eine Bergtour plante. So empfahl der Österreichische Alpenverein seinen Mitgliedern1863:
« En cas d'accident, on peut emporter avec soi une petite bouteille de bon rhum. La poudre de Dover trouvera facilement une place dans les bagages et peut être fort bienvenue en haute montagne. Pour les excursions sur les glaciers, nous recommandons l'huile de glycérine comme moyen très efficace pour protéger la peau des coups de soleil. Son utilisation est préférable à celle de la poudre à canon, ne serait-ce que pour des raisons de propreté». Das von Dr. Thomas Dover (1660-1742) angegebene Pulver enthielt Ipecacuanha, Kaliumsulfat und 10% Opium und wurde vor allem von den Engländern geschätzt - bei rheumatischen und anderen Schmerzen, bei Husten und widerspenstigen Durchfällen.

Es ist klar, dass der Inhalt der Notfallkästchen laufend abgewandelt wurde, in Abhängigkeit mit den Fortschritten der Medizin. 1929 empfahl eine luxemburgische Tageszeitung folgenden Inhalt:
"Die Reiseapotheke. – Die Reiseapotheke sei klein und handlich, und soll doch viele Dinge enthalten, nämlich: Aspirin gegen Kopfschmerzen, Katarrhe u. beginnende Infektionskrankheiten. Jodtinktur zum Bepinseln frischer Wunden. Abführmittel wegen mancher durch die unregelmäßige Lebensweise auf Reisen bedingten Obstipation, Taninpulver gegen Diarrhöen, Iodkali gegen Angina zum Gurgeln. Essigsaure Tonerde in fester Form gegen Entzündungen, Mückenstiche, usw. Watte, einen sterilen sogenannten Schnellverband, Gaze und Dermatolpulver für Rißquetschwunden. Mit diesen Dingen kann man solange auskommen, bis ärztliche Hilfe geholt wird, wenn diese nötig ist" (Escher Tageblatt vom 21.8.1929).

Ein kleines Besteck aus dem 19. Jahrhundert im Thunderbird Park (RBCM : HH988.3.39) mit 6 Fläschchen enthielt "sulfate de quinia, purgatif à base de plantes, de phosphore, acide arsenical und sulfate de morphia) (https://www.royalbcmuseum.bc.ca/exhibits/tbird-park/html/fr/pre/medartfs.htm). Die in der "Pharmacie normale" von Pradel & Paquignon 1889 empfohlene "Pharmacie de poche" zu 14 francs enthielt "Acide phénique, Eau de mélisse, Extrait de Saturne, Teinture d'arnica und Ether". Das grössere Modell zu 26 francs, dem unsrigen Modell sehr ähnlich, enthielt "Acide phénique, Teinture d'arnica, Ether, Baume du Commandeur, Collodion, Eau de mélisse, Extrait de Saturne, Vinaigre anglais, Laudanum Sydenham, Alun pulvérisé, Rhubarbe pulvérisée".

Zur vorgestellten Medikamententasche
Trotz der raffinierten Gummiklappen, die ein Herausfallen der Kork- und Glasstöpsel verhindern sollten, lief Flüssigkeit aus den Fläschchen aus. Der schlechte Erhaltungszustand der "Médicaments de poche"-Tasche erklärt sich durch ausgelaufene Säure, die die 4fachen Lagen von Papier und feinem Leder regelrecht zerfressen hat. Tierfrass tat sein Übriges: bei der Reinigung fanden sich 2 Exoskelette von Asseln ...
6 Fläschchen haben ihr Etikett eingebüsst, bei weiteren 6 kann man die mehr oder weniger gut erhaltenen Etiketts lesen:
1. Extrait de Saturne
2. Vinaigre anglais
3. Acide phénique
4. Ether sulfurique
2 rote Pulverdöschen aus Karton tragen noch ihre handgeschriebenen Etiketts
5. Bismuth
6. Quinine

ad 1. Extrait de Saturne, Bleiessig. Man nehme einen Esslöffel Extrakt, mische in ein Liter Wasser. Man erhält "Bleiwasser" (eau blanche), Bleiwasser, Kühlwasser, Aqua plumbi s. saturnina, ist offizinell und eine Mischung aus 1 Teil Bleiessig und 49 Teilen destilliertem Wasser. Bleiwasser wurde früher als ein Adstringens benutzt. 1891 berichtete Dr. Giulini aus Nürnberg über einen Fall von Soor der Vulva bei einer Schwangeren im zweiten oder dritten Schwangerschaftsmonat - nach fünftägiger Behandlung mit Bleiwasser und vaginalen Injektionen mit Karbol-Kalkwasser konnte seine Patientin als geheilt betrachtet werden. Das Goulardsche Bleiwasser, Aqua Plumbi Goulardi, welches noch in die erste Ausgabe der Pharmacopoea Germanica (von 1872) aufgenommen war, sich aber schon in der zweiten Ausgabe (von 1882) nicht mehr findet, bestand aus 1 Teil Bleiessig, 4 Teilen Weingeist (Spiritus) und 45 Teilen Brunnenwasser. Beide fanden Anwendung zu äußerlichen Zwecken als Verbandwasser, als kühlender Umschlag bei Quetschungen, frischen Frostbeulen, entzündlichen Anschwellungen der Haut, bei Verbrennungen u. dgl. Sie halfen bei frischen Entzündungen der weiblichen Brust nicht stillender Frauen, bei Schwellungen der Leistendrüsen und Testikel - hier in Form von warmen Umschläge von Leinsamenmehl mit Bleiwasser).

ad 2. Vinaigre anglais war hochprozentiger, parfümierter Essig: "In einen Liter 60%igen Alkohol mischte man 100 g kristalline Essigsäure, 10 g Kampfer, 10 Tropfen Lavendelessenz, 20 Tropfen Nelkenessenz, 20 Tropfen Kanneel und übergoss alles mit 2 Liter Essig".
"Vinaigre aromatique anglais; acetum britannicum. Cette préparation sert à garnir les flacons de poche, préalablement remplis de sulfate de potasse granulé"
schreibt Dorvault (L'officine, Paris 1910. S.286). "Formé de substances essentiellement stimulantes, ce vinaigre a été considéré comme éminemment propre à chasser les miasmes, à préserver des affections malignes, putrides, etc. On le fait aussi respirer pendant les syncopes; bien qu'il n'ait aucune action directe, neutralisante sur les miasmes ou les exhalaisons répandues dans l'air. Ainsi on s'en frictionne la paume des mains, on en fait des fumigations pendant les épidémies. Enfin on l'emploie en frictions sur les membres paralysés, ou menacés de gangrène" (Codex, Pharmacopée française rédigée par ordre du Gouvernement, Paris 1837) - in der Notapotheke spielte er "englische Essig" also offenbar die Rolle eines Riechwassers gegen Ohnmachtsanfälle. In Seuchenzeiten rieb man sich mit dieser Flüssigkeit ein. Im Sommer hielt die scharf riechende Einreibung Stechfliegen fern ...

ad 3. Acide phénique, auch Phenol. Wegen seiner bakteriziden Wirkung wurde es früher als Desinfektionsmittel eingesetzt. Sir Joseph Lister setzte es zuerst als Antiseptikum bei der Wunddesinfektion ein; wegen seiner hautirritierenden Wirkung wurde es aber in der Chirurgie bald durch andere Antiseptika ersetzt. Phenol verursacht auf der Haut chemische Verbrennungen und ist ein Nerven-/Zellgift.

ad 4. Bei der Fabrikation von Diäthylaether, gemein als "Äther" bezeichnet, wurde Schwefelsäure eingesetzt, daher die Bezeichnung "éther sulfurique", um ihn von andern Aethern abzugrenzen. Äther war lange Jahre ein äusserliches Desinfektionsmittel. Äusserlich auf rheumatische Leiden, Nervenentzündungen und Wunden getrâufelt oder eingerieben brachte er schmerzlindernde Kühlung. Innerlich genommen (4-30 Tropfen am Tag und mehr) war er ein Aufputschmittel: man tropfte etwas Äther auf ein Stück Zucker, fertig war das Dopingmittel unserer Grossväter. In der Medizin wurde das Mittel vielfâltig eingesetzt: zur Wiederbelebung, gegen Herzschmerzen, bei asthmatischen Anfällen, heftigen Hustenattacken und Schluckauf, bei Darmkrämpfen, zur Beruhigung von zahnenden Kindern u.s.w.. In überhöhter Dosis führte das Aethertrinken zu Darmlähmung und Schläfrigkeit ...

ad 5. Wismut war am Ende des 19. Jahrhunderts Bestandteil von Wundpulvern (z. B. Dermatol). Seit den 1920er Jahren fand es Verwendung als Mittel gegen die Syphilis. Seit Jahrhunderten aber wurde Wismut bei Magengeschwüren eingesetzt, Wismut tötet Keime - auch den damals noch nicht identifizieten Helikobakter. In der Reisetasche hatte das Mittel folglich seinen Platz gegen Leib- und Magenschmerzen ...

ad 6: Chinin wurde 1823 vom Apotheker Friedrich Koch in Oppenheim erstmals im industriellen Maßstab aus der Rinde von Cinchona-Arten gewonnen. Es wirkt schmerzstillend, in unmittelbarer Umgebung betäubend und fiebersenkend.