Pharmazie


Sauerstofftragetasche

 

Aether und Chloroform konnten bequem in Glasflaschen transportiert werden und wurden mit Tropfflaschen verabreicht. Woher aber stammte das in der Praxis benutzte Lachgas, und wie wurde es transportiert? Die Herstellung von Lachgas erfolgt durch kontrollierte thermische Zersetzung von chloridfreiem Ammoniumnitrat NH4NO3 oder durch Erhitzen einer Mischung aus Ammoniumsulfat und Natriumnitrat. Die Temperatur darf bei beiden Darstellungswegen nicht höher als 300 °C steigen, da es sonst zu einem explosiven Zerfall von Ammoniumnitrat kommen kann - nichts für die Praxis. Da war die Mithilfe des Apothekers gefragt, der über das entsprechend ausgerüstete Laboratorium verfügte. Ende der 1860er Jahre wurde Lachgas populär, als Gardner Quincy Colton auf der Weltausstellung in Paris die Vorteile einer Zahnbehandlung unter N2O-Inhalation demonstrierte und eine neue Apparatur zur Herstellung und Lagerung des Gases vorstellte.
Für den Transport musste man anfänglich auf Gassäcke zurückgreifen, wie sie seit dem 18. Jahrhundert benutzt wurden: Gassäcke sind die ältesten Gasspeichersysteme. Um das Jahr 1853 komprimierte der Brite George Barth erstmals Lachgas in Gaszyklindern, welche anfangs aus Kupfer, später aus Stahl hergestellt wurden. Die Speicherung von Sauerstoff war ab 1868 in ähnlichen Zylindern möglich. Somit war die aufwendige Eigenproduktion überflüssig. Was also zum Kuckuck transportierte HIPPERT in seinen Säcken? Sauerstoff ...

Zur sog. Inhalative Sauerstoff-Therapie
Um 1796 konstruierten Thomas BEDDOES (1760-1808) und James WATT (1736-1819) einen Apparat zur Sauerstofftherapie, der aus einem Reservoir-Beutel bestand, in den das Gas unmittelbar nach seiner Herstellung geleitet wurde. Dem Patienten wurde dieses über einen weiteren Schlauch, der in ein Mundstück resp. eine Maske einmündete, zugeleitet. Dieses System blieb bis ins 20. Jahrhundert unverändert und findet sich in einem Katalog der Fa. Down Bros. aus dem Jahr 1919 wieder (zit.: Julian M. Leigh, The evolution of oxygen therapy apparatus, Anaesthesia 1974, 29, S. 462-485).

In dem französischen Apothekerhandbuch Dorvault, L'officine (15. Ausg. 1910 S. 999), wird die Sauersstoffherstellung ausführlich beschrieben, und dazu bemerkt:
"VALLET, pharmacien à Donzy (Nièvre) a construit un appareil très pratique pouvant fournir, en 5 minutes, de 30 à 40 litres d'oxygène pur. Les appareils du Dr. BAYOD permettent de produire, semblablement à l'aide du peroxyd de sodium, de l'oxygène, soit pour inhalation directes (appareil petit modèle), soit pour le remplissage des ballons (grand modèle)".

Der Sauerstoff wurde von den Patienten kurzfristig intermittierend über einige Minuten angewendet, sodass im Abstand von 12 bis 48 Stunden höchstens zweistellige Literbeträge verabreicht worden sein dürften. Der Verzicht auf einen Druckzylinder und auf ein Druckreduzierventil (z.B. das 1889 von der Fa. Draeger entwickelte Ventil „Lubeca“), vereinfachte und verbilligte die Therapie. Ausserdem brauchte der Patient weniger Gewicht mit sich herumschleppen.

Vorgestellt wird eine 40 x 55 cm grosse Stofftasche, mit der der Apotheker August HIPPERT (1888-1957) um 1920 (dem Jahr seiner Niederlassung) Sauerstoff an seine Kundschaft auslieferte. Sollte HIPPERT über eine Sauerstoffanlage nach VALLET oder BAYOD verfügt haben ? Mitnichten. Laut Sohn Pierre HIPPERT (zit. Robert WEILER, Apotheker in Grevenmacher) füllte HIPPERTsen. den Sauerstoff aus einer Druckflasche in die leichtere Tragetasche um und übergab sie (ohne Rezept) an ältere Leute, die ihre Sauerstoffbilanz etwas aufzufrischen wünschten ...

Laut Etikett stammte die Tasche aus dem Werk des Gummifabrikanten PIRELLI, wobei HIPPERT lediglich seinen Namen werbeträchtig auf die Tasche aufdrucken liess. In seiner kleinen Gummiwarenfabrik produzierte der Italiener Giovanni Battista Pirelli (1848-1932) ab 1872 die unterschiedlichsten Artikel (telegraphische Leitungen, Unterseekabel und Fahrradreifen). 1901 startete die Produktion von Autoreifen ...

1904 stellte der Apotheker Eduard Meyer in seinem Schaufenster in der alten Avenue am Bahnhof Erste Verbandskästen aus, sowie ein neuartiges Sauerstoffgerät, das die Sauerstoffsäcke seiner Konkurrenten ins Visier nahm:
"Sauerstoff-Rettungskoffer — Apparat zur Aufspeicherung und Inhalierung von Sauerstoff. Ist bestimmt für Kranke, die an Asthma, Lungen-, Herz- und Blutkrankheiten leiden, überhaupt da, wo durch eine Störung der Atmungsorgane die Kapazität der Lungen eine beschränkte und die Bluterfrischung in der Lunge unzureichend ist. Statt dass jetzt der Sauerstoff in Apotheken in Schläuchen verkauft und beim Gebrauch großenteils unnütz verloren geht, sind in diesem Inhalationsapparat 110 Liter Sauerstoff unter einem Druck von 250 Almosphären aufgespeichert und werden durch eine zweckmäßige Inhalationsvorrichtung ohne Verlust dem Kranken je nach Bedürfnis zugeführt; ein bedeutenderFortschritt in der Pflege von Atmungskranken" (Luxemburger Wort vom 3.4.1904).

Da Sauerstoff ein sehr potentes Medikament ist und seine Verwendung in höherer Konzentration zu verstärkter Bildung von sog. Sauerstoffradikalen führt, ist es notwendig, während der Therapie sog. Antioxidantien als Schutzmittel gegen die Sauerstoffradikale zuzuführen. Von dieser Vorsichtsmassnahme aber ahnte HIPPERT noch nichts ...


Mein besonderer Dank geht von dieser Stelle an Herrn Robert WEILER, Apotheker a.D. in Grevenmacher, der mir bei der Aufklärung dieses geheimnisvollen Objektes sehr behilflich war und nicht zögerte, Kontakt zu seinem Kollegen Pierre HIPPERT aufzunehmen ...